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Napoleon und die Natur im Frühling

Tagebuchlesung von und mit Stephanie Hecht und Beate Schulz
Musik: audiokollektiv

Stephanie Hecht, Jahrgang 1959, aufgewachsen in Franken und Beate Schulz, Jahrgang 1969, in Mecklenburg-Vorpommern groß geworden, lesen aus ihren alten Tagebüchern.

Zwei Frauen, zwei Jahrzehnte, zwei Tagebücher. Stephanie Hecht berichtet über ihre große Liebe zu Napoleon, Liszt und dem Kowa aus der Klasse über ihr in der Bundesrepublik Mitte der 70er Jahre.

Beate Schulz erzählt von der Pubertät auf dem Land, der gefühlten Faulheit einer Einserschülerin und ihrem ersten Kuß in der DDR der 80er.

Während Beate Schulz ohne Vater nur mit Mutter und Großmutter aufwuchs, bekam Stephanie Hecht die Präsenz des Vaters regelmäßig körperlich zu spüren - in Form von Prügel. Stephanie bangt um ihre Versetzung, Beate hat schon ihr Abitur im Blick.

Die Gegensätze der Biographien verwischen vor dem Hintergrund der gemeinsamen Erfahrung des Erwachsenwerdens. Die Einsamkeit, die Unsicherheit und das Gefühlschaos dieser Zeit ist in den Tagebüchern festgehalten worden und verbindet die beiden Frauen über Zeit- und Staatengrenzen hinweg. Ausführlich wird dabei erörtert, wie sich wohl Nonnen fühlen, ob sich der Diskobesuch am letzten Abend gelohnt hat, warum die Gleichberechtigung der Frau noch im argen liegt, ob man den Jungen mit dem man geht auch küssen muß und was man ihm zum Geburtstag schenken soll.

Stephanie schlägt sich mit der Frage der Vergleichbarkeit von Napoleon und Hitler herum und sieht ihre Zukunft kurzzeitig in der Arbeit als Parlamentarierin. Beate erläutert die Vorteile der Popgymnastik, die Schwierigkeiten beim Engtanz und macht sich Gedanken, ob sie wohl je lieben können wird. Und wenn es nicht mehr weitergeht, kneift sich Stephanie den Arm blutig und Beate hungert.

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Die Texte zeigen die Komik aber auch die Tragik und das Leiden während des Erwachsenwerdens, die jeder kennt und viele verdrängen. Denn Jugendliche werden in dieser Zeit oft allein gelassen und nicht ernst genommen mit ihren Fragen und Problemen und doch sind sie prägend für das spätere Leben in der "Erwachsenenwelt".

In den sehr persönlichen Aufzeichnungen sind Fragen und Themen enthalten, die über die Teenagerphase hinausgehen, uns alle ein Leben lang begleiten und deren Antworten vielleicht noch in manchen Tagebüchern schlummern. Amüsant und ernsthaft, selbstironisch und mutig lesen die Performancekünstelerin Hecht und die Schauspielerin Schulz deshalb aus ihrer Jugend.

Das Audiokollektiv begleitet die beiden Frauen auf der Reise in die Vergangenheit und legt die entsprechenden Platten auf.

 

bisherige Aufführungen:
10.10.2006 Studio Bildende Kunst, John-Sieg-Str. 13, 10365 Berlin
21. 07. 2006 Im Zimmr 16, Florastraße 16, Berlin-Pankow
09. 02.2006, Lese Galerie Café Fräullein Smillas, Pappelallee 62, Berlin Prenzlauer Berg
10. 07. 2004, WEISS Kunstbewegung, Schliemannstr. 31, Berlin Prenzlauer Berg
03. 07. 2004, WEISS Kunstbewegung, Schliemannstr. 31, Berlin Prenzlauer Berg
18. 06. 2004 "Tacheles", Oranienburgerstr. 54-56, Berlin Mitte
14. 06. 2004, "Kaffee Burger", Torstr. 60, Berlin Mitte


Rezensionen:


KULTURA EXTRA Juni 04 (Online Magazin)

Zwei Frauen lesen aus ihren Tagebüchern. Damals waren sie vierzehn bis sechzehn Jahre alt. Damals war für die eine 1974, für die andere 1984. Damals gab es noch BRD und DDR. Sie könnten kaum unterschiedlicher sein, die beiden Mädchen, die uns in den Tagebüchern von Stephanie Hecht und Beate Schulz begegnen. Beate, die Ostlerin, die Einserschülerin, die jeden morgen kalt duscht und sich hin und wieder in der Dorfdisko "tüchtig austobt". Beate, die sachlich und mitunter detailliert beschreibt, was es zu essen gab, den Tod ihres Hundes Harras in einem Nebensatz abtut, ebenso wie die erste Begegnung mit ihrem Vater seit sechs Jahren. Und Stephanie, die Westlerin, von Zweifeln, Ängsten und Selbstmitleid gebeutelt, Biographien von Van Gogh bis Napoleon, sowie Tolstoi und Mann verschlingend, in der Schule aber versagend. Stephanie, reflektiert, dunkel, unter ihren Eltern und der Umwelt leidend.

Im Kaffee Burger, das vor allem für seine "Russendisko" auch über Berlin hinaus bekannt ist, sitzen die beiden vor Mikrophonen und lesen. Beate ist Schauspielerin geworden, Stephanie Performancekünstlerin. Sie wissen, mit den Texten umzugehen, das rechte Maß an emotionaler Färbung mitzugeben, aber auch Distanz zu wahren. Hinter ihnen kommentiert und illustriert ein DJ von audiokollektiv wundervoll mit Sounds und Songs. Und ein kleines Wunder entsteht: Fern jeglicher Peinlichkeit, ganz ohne Exhibitionismus, mitunter ironisch, aber niemals sich selbst oder sein früheres Ich diffamierend oder bloßstellend, entstehen Lebensgeschichten, entsteht der Soap-opera Effekt. Der Zuschauer/Zuhörer will mehr wissen, will wissen, wie es weiter geht. Wird Stephanie den Kowa kriegen "auf den sie spinnt" (in den sie verliebt ist)? Wird Beate morgen wieder um sechs Uhr aufstehen und kalt duschen? Wenn die ersten Eintragungen noch voll entlehnter Sprache sind - Beate schreibt im Stil ihrer Mutter und Großmutter, Stephanie zitiert den Stil der Bücher, die sie liest - hört man, wie sich hier und da ein authentischer, eigener Satz einschleicht, wie die Persönlichkeit sich entäußert. Die scheinbar so oberflächliche Beate entdeckt z.B. eines Tages die Tagebücher der Anne Frank und wird sich über ihr eigenes banales Geschreibsel bewusst. Als beide ca. sechzehn Jahre alt sind und die erste echte Liebe sich in ihrem Leben findet, endet die Lesung.

Nein, die beiden Mädchen stehen nicht exemplarisch für eine Kindheit im Osten oder Westen Deutschlands. Sie darauf zu reduzieren, täte ihren Biografien Gewalt an. Nein, sie sind vierzehn- bis sechzehnjährige Mädchen auf dem Weg, zu den Frauen zu werden, die uns diesen charmanten und anrührenden Abend geschenkt haben.


s.l. - red. / 15. Juni 2004

Siehe auch:
www.audiokollektiv.de